Eine Wette auf die Zukunft: Anmerkungen zum neuen Google-Kartellrechtsurteil

Hat Richter Mehta zu viel Vertrauen in die reinigende Kraft des technologischen Fortschritts gesetzt?

Am 2. September 2025 fällte Richter Amit Mehta vom United States District Court für den District of Columbia das bedeutendste kartellrechtliche Urteil im Tech-Bereich seit mindestens einem Vierteljahrhundert: die Entscheidung zu den Auflagen im Kartellverfahren des US-Justizministeriums gegen Google. Das Unternehmen wurde bereits 2024 für schuldig befunden, eine illegale Monopolstellung im Bereich der Online-Suche innezuhaben.

Voraussichtlich wird Berufung gegen das Urteil eingelegt, und es könnten noch Jahre vergehen, bis die angeordneten Maßnahmen tatsächlich in Kraft treten. Dennoch ist die Wirkung des Urteils bereits jetzt enorm.

Verhaltensauflagen, keine Zerschlagung

Die vom Gericht gegen Google verhängten Auflagen umfassten u.a. folgende Verhaltensvorgaben:

  • Ein Verbot, exklusive Standard-Suchmaschinenvereinbarungen mit Partnern wie Apple oder Smartphone-Herstellern abzuschließen.
  • Die Verpflichtung, „qualifizierten Wettbewerbern“ einen begrenzten Zugang zu Googles Suchindex- und Werbedaten zu erlauben, sodass diese Wettbewerber bessere Chancen haben, eigene Suchmaschinen und -technologien aufzubauen.
  • Die Verpflichtung, keine Vergeltungsmaßnahmen gegen Partner oder Werbetreibende zu ergreifen, die auch mit konkurrierenden Suchmaschinen Geschäfte machen.

Am bedeutendsten — und für viele frustrierend — ist, dass der Richter Google nicht verpflichtete, sich vom populären Chrome-Browser oder vom Android-Betriebssystem zu trennen.

Die verhängten Auflagen gelten vorerst für sechs Jahre, danach wird die Situation erneut bewertet.

Investoren jubeln, Kritiker klagen

Die Investoren zeigten sich jedenfalls erfreut: Der Wert der Google-Aktie stieg in den Stunden nach der Veröffentlichung des Urteils um ca. 8%.

Während das US-Justizministerium (Department of Justice) in seiner eigenen Pressemitteilung zum Urteil einen recht positiven Ton anschlug, kritisierten viele andere die Entscheidung. Sie meinten, Google sei mit einem blauen Auge davongekommen und die Auflagen würden sich nicht wesentlich auf den Markt für Online-Suche auswirken, in dem Google nachweislich ein illegales Monopol aufrechterhält. Ihrer Ansicht nach wären viel härtere Maßnahmen nötig gewesen, um faire Wettbewerbsbedingungen wiederherzustellen.

Warum also entschied Richter Mehta sich für einen so milden Ansatz?

Entwicklung im Eiltempo

Während generative KI-Technologien (im Urteil als „GenAI“ bezeichnet, wozu neue KI-getriebene Technologien wie LLMs und Chatbots gehören) in der ersten Phase des Verfahrens („liabilities verdict“) nur eine untergeordnete Rolle spielten, rückten sie in der zweiten Phase („remedies“) in den Mittelpunkt.

Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Technologien entwickelt und etabliert haben, hat Richter Mehta offensichtlich tief beeindruckt. In seinen einleitenden Bemerkungen zu diesem wegweisenden Urteil erklärte er sogar ausdrücklich: „Das Aufkommen von GenAI hat den Verlauf dieses Falls verändert.“

Wer die Entwicklungen in der Online-Suchbranche nicht genau verfolgt hat, kann die rasanten Veränderungen der letzten Jahre durch generative KI-Technologien kaum nachvollziehen.

Selbst für SEO-Profis ist es schwierig, mitzuhalten

Selbst für SEOs wie mich ist es schwer, da mitzuhalten. Die alten Regeln werden jeden Tag über den Haufen geworfen. Prognosen und Thesen über die weitere Entwicklung werden aufgestellt und breit diskutiert, nur um wenige Wochen später von neuen Daten widerlegt zu werden.

Bedenkt man, dass Mehtas Urteil zu den Auflagen OpenAI 30-mal, Anthropic 6-mal und Perplexity 33-mal erwähnte, wird die Bedeutung dieser Unternehmen deutlich. Diese KI-Unternehmen sind inzwischen weltweit bekannt und werden täglich von Millionen Menschen genutzt. Als die Kartellrechtsklage gegen Google im Oktober 2020 eingereicht wurde, war jedoch nur OpenAI überhaupt gegründet. So schnell bewegen sich aktuell die Dinge im Tech-Bereich.

Es ist schlicht unmöglich zu wissen, wie die Lage nächste Woche aussieht – geschweige denn in einigen Jahren.

Richter Mehta: Demut ist hier angesagt

Während er anerkannte, dass ein Kartellgericht durchaus das Recht habe, harte Strafen gegen Unternehmen zu verhängen, die illegale Monopole aufrechterhalten, erklärte Richter Mehta auch, dass in diesem Fall Vorsicht geboten sei.

Die Entscheidung darüber, welche Auflagen Google auferlegt werden sollten, könne nicht auf vergangenen Daten oder der Erwartung beruhen, dass der relevante Markt weiterhin so funktioniere wie bisher.

Wie in den vorigen Absätzen erwähnt, sei es sinnlos, zu versuchen, die Entwicklung dieses Marktes vorherzusagen — und Mehta, der kein tiefes Fachwissen in den betreffenden Technologien hat, war klug genug, sich dieser Aufgabe elegant zu entziehen. Er sagte:

„[…] Gerichte müssen die Aufgabe, Auflagen zu formulieren, mit einer gesunden Portion Demut angehen. Dieses Gericht hat dies getan. Es hat keine Expertise im Geschäft mit Suchmaschinen, im Kauf und Verkauf von Suchtextanzeigen oder in der Entwicklung von GenAI-Technologien. Und anders als im typischen Fall, bei dem es Aufgabe des Gerichts ist, einen Streit anhand historischer Fakten zu klären, wird das Gericht hier aufgefordert, in eine Kristallkugel zu blicken und in die Zukunft zu schauen. Nicht gerade die Stärke eines Richters.“

Die reinigende Kraft des technologischen Fortschritts

Trotz seiner ausdrücklichen Abneigung gegen das „Lesen im Kaffeesatz” der KI-Entwicklung enthält das vergleichsweise milde Urteil eine implizite Prognose.

Mehtas stärkerer Fokus auf GenAI in der Auflagenentscheidung im Vergleich zum Liabilities-Urteil zeigt, dass er offenbar erwartet – und darauf vertraut –, dass die KI- und technologische Fortschrittslokomotive Googles Monopol in der klassischen Online-Suche von selbst eindämmen oder vielleicht sogar auflösen wird – ohne dass der Staat härtere Maßnahmen ergreifen muss.

Aber wird das geschehen? Wir wissen es noch nicht. Wie Richter Mehta haben auch wir keine Kristallkugel und müssen abwarten, wie sich die Dinge entwickeln.

Es liegen jedoch bereits Daten vor, anhand derer wir einschätzen könnten, ob Mehtas Wette auf die Fähigkeit des technologischen Fortschritts, Googles Dominanz in der Online-Suche zu untergraben, gut gesetzt war.

Ein ständig wachsender Kuchen

Neue Recherche des großen SEO-Tool-Anbieters SEMRush deuten darauf hin, dass dies nicht der Fall ist.

Die Studie untersuchte, wie sich die Nutzung von Google bei Testpersonen in den Monaten nach deren erstmaligen Verwendung von ChatGPT veränderte.

Eine Analyse der Clickstream-Daten ergab, dass die Probanden ihre Google-Nutzung nach der Einführung von ChatGPT nicht zurückfuhren.

Vielmehr nutzten neue ChatGPT-User das Tool in anderer, komplementärer Weise zu Google, etwa zur Bildgenerierung.

Mit anderen Worten: ChatGPT scheint Google nicht zu kannibalisieren oder ersetzen; vielmehr bietet es den Nutzern zusätzliche, eigenständige Möglichkeiten. Oder: ChatGPT frisst nicht von Googles Kuchen — der Kuchen wird einfach größer.

Dies würde Mehtas grundlegende Erwartung untergraben, dass sich GenAI-Entwicklungen als natürliches Heilmittel gegen Googles Monopol in der klassischen Online-Suche erweisen.

Abwarten, Tee trinken

Nun, dies ist nur eine Studie. Die nächste in zwei Wochen könnte schon wieder ganz andere Ergebnisse zeigen.

Nur das langfristige Bild zählt — und dafür müssen wir uns in Geduld üben und abwarten.

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